„Die Arzneimittelversorgung von Kindern und Babys im kommenden Winter hängt am seidenen Faden“
Apothekerverband Nordrhein e.V. warnt vor weiterer Verschlechterung der heute schon dramatischen Lieferengpasssituation bei Arzneimitteln
„Die Arzneimittelversorgung von Kindern und Babys im kommenden Winter hängt am seidenen Faden, einem immer dünner werdenden Faden. Was das bedeutet, können die Menschen jetzt schon bei der Abholung von Medikamenten in unseren Apotheken tagtäglich erleben“, betonte der Vorsitzende des Apothekerverbandes Nordrhein e.V. (AVNR) beim gestrigen Sommerempfang des Verbandes vor über 100 hochkarätigen Gästen aus dem Gesundheitswesen, darunter Politiker, Vertreter des NRW-Gesundheitsministeriums, der Ärzteschaft, Krankenkassen, Krankenhäusern, der Selbsthilfe, des Pharmazeutischen Großhandels und der Arzneimittelhersteller. In einem Grußwort betonte der Präsident des deutschen Behindertensportverband und Nationales Paralympisches Komitee (DBS) e.V., Friedhelm Julius Beucher, die Wichtigkeit der Apothekerinnen und Apotheker in der persönlichen Betreuung ganz besonders auch behinderter Menschen: „Ihr helft den Menschen!“ Ganz besonders herzlich bedankte er sich für die Partnerschaft auf Landesebene mit den Apothekerorganisationen in NRW, die auch vom 13. bis 16.09.2023 erneut den Behindertensport auf der Rehacare, der weltweitgrößten Messe für Rehabilitation und Pflege, aktiv unterstützen werden.
Unhaltbare Verhältnisse in der Arzneimittelversorgung
„Immer mehr Medikamente werden per Sonderzulassung aus dem Ausland in hektischer Weise importiert und zugelassen. Und das unter außer Acht lassen jeglicher Sicherheitsaspekte. Ganz ohne Beipackzettel oder mit Beipackzetteln, die aber per KI übersetzt wurden und nur der Zulassung des Ursprungsland entsprechen – wenn überhaupt –, Kinderantibiotika ohne Dosierlöffel, Asthmamittel in komplett französischer Aufmachung, ohne jegliche deutsche Beschriftung – übrigens nur, um den Rabattvertrag einer deutschen Krankenkasse bedienen zu können, sind nur einige Beispiele dieser unhaltbaren Verhältnisse“, kritisierte Preis in seinem gesundheitspolitischen Statement. Apothekerinnen und Apotheker und ihre Apothekenteams würden von Tag zu Tag immer mehr bangen, eine leitliniengerechte und sichere Arzneimitteltherapie der Patienten sicherstellen zu können. „Die Arzneimittelversorgung verschlechtert sich weiter. So sind die Lieferengpässe gemäß BfArM-Liste innerhalb eines Jahres um über 25 Prozent auf aktuell über 500 angestiegen. Innerhalb von fünf Jahren sogar um über 150 Prozent, konstatierte Preis.
Mehrere Tausend Arzneimittel nicht lieferbar – enormer Aufwand für Apotheken
„Schon diese Zahlen untermauern die äußerst alarmierende Situation jetzt und im kommenden Winter. Allerdings spiegelt die Anzahl dieser Liste nicht das wahre Ausmaß wider. Denn viele fehlenden Arzneimittel werden in dieser Liste nicht erfasst. Der Apothekerverband Nordrhein e.V. geht von mehreren Tausend nicht lieferbaren Arzneimitteln aus. Eine Umfrage des Apothekerverbandes Nordrhein hat im ersten Quartal diesen Jahres ergeben, dass mittlerweile jedes zweite Rezept von Lieferengpässen betroffen ist“, sagte Preis.
Allein in NRW seien Tag für Tag über 300.000 Patienten mit ihren Medikationen von Lieferengpässen bei Arzneimitteln betroffen. Um trotzdem die Versorgung der Patienten sicherzustellen, bedeute das für Apotheken einen enormen Personalaufwand. „Für diesen enormen Mehraufwand sieht das aktuelle Arzneimittel-Lieferengpassbekämpfungs- und Versorgungsverbesserungsgesetzes (ALBVVG) ein lächerliches Almosen von 50 Cent für das Lieferengpass-Management vor – eine Beleidigung für uns als ApothekerInnen und unsere Teams“, stellte Preis klar. Nach Berechnungen der ABDA betrage der jährliche Gesamtstundenaufwand für das Management von Lieferengpässen rund 5,62 Mio. Stunden. Für die Arbeitgebenden in unserer Branche ergeben sich Verluste in Höhe von rund 425 Mio. Euro im Jahr oder mindestens 21 € pro durchgeführtem Lieferengpass-Management.
150 Millionen Mehrbelastung der Apotheken forciert Apothekenschließungen
„Betriebswirtschaftlich stark verschärfend komme noch hinzu, dass unser apothekerliches Abgabehonorar schon quasi zwei Jahrzehnte einen permanenten Stillstand erlebt. Und nicht nur das: Seit dem 1. Februar 2023 müssen die Apotheken laut Gesetz einen um 23 Cent auf 2 Euro erhöhten Kassenabschlag pro Rx-Packung zahlen – Geld, das den Apotheken vor Ort fehlt“, so Preis. Mit der Erhöhung des Apothekenabschlags seit dem 1. Februar werde jede Apotheke mit 600 Euro pro Monat zusätzlich belastet. Das mache allein in den elf Monaten des Jahres 2023 rund 115 Millionen Euro Belastung aus. Das Geld fehle zur Versorgungssicherung und bei der Nachwuchsgewinnung, so Preis weiter. Er forderte daher Politik und Krankenkassen erneut nachdrücklich auf, die Apotheken nicht kaputtzusparen und das seit mehr als zehn Jahren geltende Fixhonorar endlich zu erhöhen.
Apothekenanzahl bundes- und landesweit weiter besorgniserregend im Sinkflug
Preis machte deutlich, dass sich die Anzahl der Apotheken bundes- und landesweit weiter besorgniserregend im Sinkflug befindet: „Ein Signal für die immer dünner werdenden betriebswirtschaftlichen Rahmenbedingungen sind allein die 1.250 Apothekenschließungen in Deutschland seit unserem letzten Sommerempfang im September 2019. Damit hat sich die traurige Prognose aus 2019 bewahrheitet, weniger als 18.000 Apotheken zu haben. Aktuell sind es 17.825 (Stand: 30.06.2023), 2009 waren es noch über 20 Prozent mehr. Mit Blick auf die Apothekenanzahl im Rheinland stellte Preis fest: „Zum Ende des Jahres werden wir sehr wahrscheinlich weniger als 2.000 Apotheken in Nordrhein haben, aktuell sind es 2.027, im Jahr 2009 waren es noch 2.507 Apotheken und somit fast 25 Prozent mehr.“ Schon jetzt würde Deutschland bei der Apothekendichte im europäischen Vergleich zu den Schlusslichtern zählen, betonte Preis.
Immer weniger Apotheken müssen immer mehr Menschen versorgen
Mit Verweis auf die wachsende Bevölkerungsanzahl machte Preis deutlich: „Immer weniger Apotheken, die zusätzlich auch unter einem extremen Fachkräftemangel leiden, müssen immer mehr Menschen versorgen – auch weil die Bevölkerungszahl in Deutschland entgegen der Prognosen weiter angestiegen ist. So stieg in fünf Jahren von 2017 bis 2021 die Zahl der Bürger, die eine Apotheke statistisch versorgt, um fast 10 Prozent“, so Preis.
Nicht geirrt hätten sich die Forscher, führte Preis weiter aus, bei der stark zunehmenden Alterung unserer Bevölkerung. Deutschland werde immer älter und damit auch die zu versorgenden Patienten und Kunden in den Apotheken. So sei die Zahl der zu versorgenden über 60-Jährigen Bürger im Fünfjahres-Zeitraum 2017-2021 bereits um fast 15 Prozent und die der über 80-Jährigen sogar um über 30 Prozent pro Apotheke gestiegen. Gerade weil diese Patienten viele Medikamente bekommen, sei ihre Betreuung und Beratung in den Apotheken auch wesentlich aufwändiger als bei jüngeren Patienten.
Dieser Trend sei weiter anhaltend, konstatierte Preis, nach Berechnungen des AVNR werde bis 2045 über alle Altersgruppen zu einem Anstieg bei den Arzneimittelabgaben, pharmazeutischen Beratungen und Dienstleistungen in den Apotheken von über 30% führen. Allein bei den besonders beratungsintensiven über 70-Jährigen führte dies sogar zu einem Anstieg von über 70 Prozent, so Preis.